6. ERSTE AHNUNGEN: ICH BIN NICHT ALLEIN...

Verändert hat sich die Selbstwahrnehmung meiner Sexualität dann langsam und schrittweise ab 1990. Ob es damit zu tun hatte, dass damals nacheinander unsere drei Kinder auf die Welt kamen, B. von daher für mich nicht mehr nur meine Frau, sondern auch Mutter unserer Kinder war, unsere gemeinsame Erotik immer wieder in Schwangerschaften und Stillzeiten zurückstand? Auf jeden Fall waren die Jahre von 1990 bis 1995 für uns beide, für uns drei, vier, fünf... eine sehr glückliche Zeit, eine Zeit, die mir - trotz und in allem, was sich in diesen Jahren in meiner Sexualität getan hat - als Ehe- und Familienzeit sehr, sehr wertvoll und wichtig ist. Die Veränderungen in der Wahrnehmung meiner Sexualität hat aber sicher damit zu tun, dass ich - durch unterschiedliche Medien vermittelt - nach und nach entdeckt habe: Ich bin mit meiner ver-rückten Vorliebe nicht allein... .
Ein erster kleiner Schritt hängt damit zusammen, dass wir nach einer langen fernsehlosen Zeit ab 1990 einen Fernseher hatten(!). Im Frühjahr 1990 war ich mit einer größeren Erkältung länger und müde allein zuhause. Deswegen manchmal auch vormittags Fernseh-Versuche. Und dabei habe ich den afn-Kanal entdeckt (American Forces Network), dort Übertrageungen amerikanischer Talk- und Spielshows, die ich in vielerlei Hinsicht ziemlich öde fand, in einer Hinsicht aber nicht: Dort kamen mir - als Talk-Gäste (my favourite: Oprah Winfrey), als KandidatInnen - die ganz normalen Durchschnitts-AmerikanerInnen zu Gesicht, eben auch oft dicke, sehr dicke Frauen, oft selbstbewußt, oft mit Ausstrahlung... immer wieder mal habe ich via afn-kanal auch nach der Erkältung über den Großen Teich geschaut... .

Ein weiterer Schritt ergab sich Ende 1990. Ich war mit dem Zug unterwegs nach Hamburg zu einer Tagung. Im Bahnhofskiosk scheu zu den Erotik-Heftchen linsend, sprang mir der Titel eines der Heftchen ins Auge: "Dickerchen" - auch das so etwas wie eine Schlüsselerfahrung. Bisher hatte ich gedacht, den ganzen Erotik-Markt könne ich leichten Herzens links liegen lassen, da tummeln sich eh nur schlanke Nackte... Zu ängstlich, das Heft gleich in meiner Heimatstadt zu kaufen, nutzte ich aber sofort den Zwischenaufenthalt in Köln, um zuzugreifen. Erst abends konnte ich in der Publikation blättern und war beides: enttäuscht und erregt zugleich. Enttäuscht über die mäßige Qualität der Fotos, die mir viel zu eindeutigen Posen, erregt aber über einige sehr dicke Frauen, die da abgebildet waren, erregt über den Hinweis auf weitere Publikationen, die ‚meinen' Vorlieben entsprachen. Zur Enttäuschung vielleicht nur eines: Die eindeutigen Hochglanz-Nacktfotos halte ich bis heute für weit weniger erotisch als gute Bilder von bekleideten Dicken. Gerade die Verhüllung, das Ahnen der Fülle unter dem Stoff berührt mich viel mehr als die vordergründige Anbiederung...

Hin und wieder kaufte ich mir in der Folgezeit solche Hefte, heimlich, nie in meiner Heimatstadt, solche Publikationen zu kaufen, entsprach nicht meinem Bild von mir selbst. Immer wieder beides war ich: enttäuscht und erregt, oft blieb ein schaler Nachgeschmack, in der Regel landeten die Hefte bald im Altpapier. Aber nur so kam ich eines Tages auch zu einem amerikanischen Dicken-Magazin (BUF), in jenem Heft eine sehr schön gemacht Anzeige für "Dimensions", das amerikanische Dicken-Lifestyle-Magazin. Da besorgte ich mir die nötigen Dollars und ließ mir - es war mittlerweile 1992 - einige zurückliegende Hefte zuschicken - postlagernd und unter falschem Namen, die Scham war zu groß. Zwei Wochen später waren sie da - und mir eröffnete sich eine neue Welt: Jenseits der Schmuddelhefte war da ein Magazin, das Themen und Probleme dicker Menschen aufnahm, das sich für Size-Acceptance stark machte, Diäten kritisierte, eine Kontaktbörse für dicke Frauen und ihre Bewunderer (FA ist der unschöne Szene-Ausdruck dafür: Fat Admirer), dort gab es endlich schöne, erotische und faire Fotos dicker, sehr dicker Frauen - und dort gab es immer wieder Erfahungsberichte von Männern mit meinen Vorlieben: Ich sog diese Artikel in mich auf, entdeckte viele Parallelen zwischen deren und meinen Erfahrungen, vom Kissen-Bauch bis zum Voyeurismus, vom Gefühl, völlig allein mit der eigenen Ver-rücktheit zu sein bis zu ähnlichen Parallel-Welten wie bei mir. und dort auch immer wieder der Hinweis auf die Homo-Szene, die im Blick auf das Selbstbewußtsein und die eigene Kultur viel weiter sei als die Size-Acceptance-Szene. Immer wieder habe ich mir Dimensions besorgt und gelesen und gestaunt. Und manche selbst aufgerichteten Klischées mußten fallen: Das von den unglücklichen und unattraktiven dicken Frauen, das von der eigenen Singularität - und auch die Hoffnung, nach und nach meine Vorlieben in eine ‚normale' Sexualität integrieren zu können... Wobei ich mich hier immer nach dem Verhältnis von Selbst- und Fremdbeschreibung frage: Was wäre geschehen, wenn ich nie auf Dimensions gestoßen wäre? Wenn ich mich weiterhin als Einzelfall wahrgenommen hätte? Hätte ich mehr meiner Vorlieben in die gemeinsame Erotik mit B. integrieren können? Wie dem auch sei: Es ist so gekommen, wie es gekommen ist. Damit muß ich leben und umgehen.





Ungefähr gleichzeitig mit diesen Entdeckungen begann ich meine Skizzen und Zeichnungen nicht mehr zu vernichten, sondern zu sammeln, auch: zu verbessern, weiterzubearbeiten. Und Anfang der 90er-Jahre erfand ich immer wieder kleine Geschichten von, über und mit dicken Frauen, die ich, die mir damals neue Computertechnologie nutzend, überarbeitete, fortspann und weiterschrieb. Und oft, in den Mittagspausen, in der Stadt, in der ich arbeitete, Spaziergänge mit offenen Augen. Immer wieder beobachte ich, sehe ich, ‚verfolge' ich dicke, sehr dicke Frauen, immer öfters auch attraktive, schöne Dicke. Oft versuche ich die Eindrücke danach zu skizzieren, festzuhalten. Und manchmal bin ich nahe dran, eine der Frauen anzusprechen, wie attraktiv ich sie finde. Aber ich traue mich nie. Auch komme ich in meiner Fantasie nie weiter als zu einleitenden Sätzen. Was soll dann geschehen? Weiterer Kontakt? Mit welchem Ziel? Alles konnte ich nur als Verrat an B. und meiner kleinen Familie sehen. So blieb es bei den Gedankenspielen, bei einem resignativen: Du kannst halt nicht alles in deinem Leben haben...

All das geschieht in einer Zeit, in der ich mit B. und unserer Familie sehr glücklich bin, wunderbare Erlebnisse und Erfahrungen mit den Kindern, manche ruhigen und manche erotisch-zarten Stunden mit B. Immer ganz fest mein Gefühl, mein Bewußtsein: Bei allen Fantasie-Spaziergängen, bei aller Vorliebe für Dicke: Hier zu B., hier zu deiner Familie, da gehörst du hin. Manchmal bei meinen Fantasien oder voyeuristischen Spaziergängen fasse ich an meinen Ehering, denke: Da hab ich was versprochen, daran halt' ich mich. Aus tiefer Überzeugung, nie nur aus Pflichtgefühl.


3. Unglücklich verliebt
5. Voyeurismus, Kampf, Ansätze zur Integration