ESSAY

versuch über ein geheimnis.

so zum 27. geburtstag.
„développez votre étrangeté légitime“ (rené char)







I.

warum manche männer dicke frauen lieben? nun, werden manche sagen, da frage ich nicht lang, ich liebe sie halt. lachen und gehen ihre weges (und mit ihr ins bett). mich, von schwäbischer herkunft, mithin gründlich, grübler- und denkerisch, läßt die frage dennoch nicht los. es ist meine frage: warum liebe (n männer wie) ich dicke frauen? so, dass es anders kaum vorstellbar erscheint? eine laune der natur? eine frühkindliche prägung?

was sicher scheint, mithin als ausgangspunkt der erörterung taugt: DASS es so ist. dass es männer gibt wie mich, die zwar schlanke, ranke frauen durchaus schön finden können, charmant, auch faszinierend und bezaubernd, für die aber die erotische dimension des geschlechterverhältnisses (um es einmal nüchtern zu sagen) sich so richtig erst aufdrängt, wenn sie mollig, dick, rund, üppig, schwer ist. feldstudien und erfahrungsaustausch mit schwulen männern legen die annahme nahe, dass es sich hier um einen ähnlich kategorialen unterschied handelt: so wie ein schwuler eine frau zwar schön finden kann, charmant usw., seine erotik aber erst im angesicht eines mannes (und auch da parallel: sicher nicht jedes mannes!) erwacht, so bei uns liebhabern der dicken (... diese formel als versuch, den grauslichen FA = fat admirer einzudeutschen, verbunden mit der bitte um bessere lösungen).

aber warum? warum ist das so? was hat es für einen sinn? neugierig, wißbegierig und betroffen suche und sammle ich einige mögliche spuren, unvollständig und unbewertet nebeneinander gestellt, als denkangebot und als bitte um ergänzung und widerspruch.






meine erfahrung, dass es so ist, seit ich denken kann – schon meine frühkindliche sexualität hat sich ums dicksein, um die fülle gedreht – legt mir die phylogenetische deutung nahe: es steckt in meinen genen. ich kann nicht anders. mich haben sie so zur welt gebracht – und ich sollte mich der prägung fügen und froh sein, dass es nichts schlimmeres ist (wie pädophilie, kannibalismus, oder andere un-normale für die betroffenen selbst und andere bedrohliche formen der sexualität, mit denen manche menschen geschlagen werden). ich gestehe, dass mir die deutung via vererbung immer schon sympathisch war, weil sie meiner – erschreckend oder beglückend kontinuierlichen – erfahrung entspricht: keine laune, keine krise, keine katastrophe, keine entwicklung, keine beziehung, nichts hat mich in 40 jahren davon abgebracht, ein liebhaber der dicken zu sein.

obwohl, wenn ich mich dann so umsehe in meinem stamm, meiner phyle: nichts da. meine geschwister sind alle mit schlank-normalen mainstream-partnerInnen liiert, auch in der eltern-großeltern- und, soweit erinnerlich, der urgroßeltern-generation: allenfalls leicht mollige frauen, nie richtig schön dick. nun weiß ich, dass prägungen oft generationen überspringen können. auch weiß ich, die schwulen-bewegung hat es ja exemplarisch diskutiert, dass nicht-normale erotische neigungen in der groß- und urgroßelterngeneration verdrückt, nicht angesprochen, schon kaum je gelebt worden sind. ich komme aus einer süddeutschen, zwar tief liberalen, aber erotisch doch eher verklemmten beamten- und bauernfamilie, da zumal dürfte dies zutreffen. die eigenfamiliäre empirie sagt also noch nicht alles.






menschen, die nicht irgendwelchen konventionen folgen, sondern ihrer leidenschaft, ihrem eros, finden sich in der kunst. und dass da die runden frauen gewichtige fürsprecherInnen haben, ist evident. nicht nur peter paul rubens, nicht nur seine barocken kollegen malen frauen rund und voll. das kommt fast in jeder künstlergeneration einmal vor – und manche kommen immer wieder darauf zurück. malen frauen mit gewicht, mit präsenz, mit kraft. und frauen selbst, durchaus nicht nur die dicken, sondern dünne, magere frauen, malen sich und ihre geschlechtsgenossinnen dick und mächtig, niki de st. phalle allen voran mit ihren runden, bunten nanas.

als moderater anhänger einer sozial erweiterten evolutionären perspektive kann ich kaum anders als tiefe archaische motive geltend zu machen. hungersnot und fettreserven, fressen, fliehen und verdauen: essen hatte immer schon mit über-leben zu tun, viel essen mit länger überleben, fett war und ist speicher für notzeiten, das alles ist hinlänglich bekannt. und so hat sich dem menschengeschlecht tief eingegraben, dass dick-sein heißt: vorbereitet sein, gewappnet sein für schlechtere zeiten, dick sein hat mit fülle, wohlstand, prosperität zu tun. selbst die eher zur askese neigende bibel macht da keinen bogen drum: sieben fette kühe, gefolgt von den mageren – in josefs traum. deine hüften sollen strotzen vom fett und dein gesicht vom öl glänzen – in den psalmen. archaische formulierungen für segen, wohlstand und – schönheit.

von dem direkten zusammenhang von nahrung und wohlstand leiten sich weitere tief sitzende motive ab: dicksein, so meine vermutung, hat von alters her etwas mit macht, power, präsenz und gravität zu tun. das gilt, wie eben im seitenblick auf die kunst erwähnt, sehr unmittelbar für frauen: die kommunikative macht und präsenz der dicken 'mama’ in südländischen familien, das bild, wie eine dicke frau langsam, schwer und stolz geht, die blicke auf sich zieht. das gilt ähnlich wohl auch für männer: nicht nur im märchenbuch sind könige, machthaber oft dick und schwer – die politische macht drückt sich auch in der leibesfülle aus, mindestens war dick-sein nie ein hindernis dafür, macht zu haben. eine linie, die sich – mit etlichen abstrichen – bis heute durchhält: sigmar gabriel, helmut markwort vom focus, leverkusens manager reiner calmund, bald wohl wieder: joschka fischer.

noch weiter mag die assoziationenkette dick – prosperierend – mächtig bei den frauen gehen: sie haben den männern voraus, leben gebären zu können, fruchtbar sein zu können. zum mutter werden gehört das dick-werden elementar dazu, nicht nur wegen des schwellenden bauches, sondern weil diese elementare leistung, leben zu gebären, sozial immer schon dadurch honoriert wurde, dass werdende und gewordene mütter in der gruppe am besten mit nahrung versorgt werden. es ist kein betrüblicher negativer externer effekt, dass frauen, kinder bekommend, aufgehen, breiter und runder werden, sondern es ist eine sozial eingebettete lebensnotwendigkeit (und selbst heute ist schwanger werden einer der ganz wenigen gesellschaftlich anerkannten anlässe, dicker werden zu dürfen - du mußt ja jetzt für zwei essen -, wenn frau auch das problem hinterher möglichst schnell wieder in den griff zu bekommen hat).

und hier verbinden sich nun in archaischer tiefe ökonomische, politische und soziale motive mit religiösen einstellungen: frauen sind der erde eng verwandt, der mutter erde, die ebenfalls fruchtbar leben hervorbringt und selbstverständlich rund ist. die vor- und frühzeitlichen fruchtbarkeitsidole – üppigste frauen voller energie, mit großen brüsten, breiten hüften – machen diesen zusammenhang augenscheinlich (und meine skizzen auf dieser seite versuchen diese evidenz aufzugreifen). es ist für mich eine der fundamentalsten anfragen an die christliche überlieferung: weswegen ist dort die energie und fruchtbarkeit der erde und der frauen so stark von männern usurpiert worden (vater, sohn und heiliger geist – die einzige frau im team, maria, wurde im laufe der überlieferung konsequent für unerotisch erklärt)?






wann lösen sich diese tiefen zusammenhänge auf, wann wird die assoziationenkette dick – prosperierend – mächtig – fruchtbar – göttlich brüchig? sicher hat es immer schon kulturen gegeben, die diesen zusammenhang belächelt, geleugnet haben, geografische, ökonomische und soziale umweltbedingungen spielen da eine wichtige rolle. ich möchte dennoch für unseren kulturkreis zwei bruchstellen markieren: die aufklärung im 17. und die demokratisierung von wohlstand im 20. jahrhundert. (ob es noch andere historioökotrophologische zusammenhänge gibt - die einführung der kartoffel in europa, damit der rückgang unabsehbarer hungersnöte? für hinweise bin ich dankbar.)

die europäische aufklärung war und ist, wie wir mittlerweile nur zu gut wissen, ein hochgradig dialektisches unterfangen, hat nicht nur befreiung aus selbstverschuldeter unmündigkeit, beweglichkeit und emanzipation an vielen fronten gebracht, sondern auch eine dominanz technischer und ökonomischer denkmuster, eine kontrollierend-rationale durchdringung vorher anders organisierter lebenwelten. nein, ein feind der aufklärung bin ich keineswegs, aber jemand, der ihre ambivalenten folgen versucht in den blick zu nehmen, der gerne ein paar kleine beiträge zur ihrer selbstkritischen wendung, zu ihrer durcharbeit liefert.

aufklärung und dick-sein, eine erste schlichte assoziation: war früher die gesellschaft ständisch strukturiert, so kommt es nun auf beweglichkeit an. das leben vor der aufklärung hatte immer damit zu tun, seinen ort zu finden, seinen stand, seinen sitzplatz am lagerfeuer. mit der aufklärung brechen die menschen auf, suchen eigene wege, nehmen das feuer mit, um vorher unbesehenes zu beleuchten, zu entdecken. dicke, mächtige, schwere menschen sind hervorragende vor-sitzende, passen in ständische strukturen, bilden gravitationszentren. aufbruch und geschwindigkeit ist ihre sache nicht.

eine reflexionsschleife weiter: zu einer technisch halbierten aufklärung gehört rationale kontrolle und lineares projekt. dies führt zu einem neuen paradigma der lebensführung. wurde vorher leben als vorgegebenheit, als geschenk oder schicksal empfunden, so lautet der imperativ nun: nimm dein leben in die hand! setze dir ziele, verfolge sie effektiv! michel foucault hat gezeigt, welche auswüchse die kontrollierende vernunft im umgang mit sexualität, mit wahnsinn, mit gefängnis und macht zeitigen konnte: das wahre vernünftige wird vom falschen, vom irren und irrationalen leben trennscharf geschieden. es fällt nicht schwer, auf dieser linie das projekt gesunderhaltung oder körpergewicht einzutragen: wer seine fülle nicht unter kontrolle bekommt, erweist sich als irrational und aufklärungsresistent, ein feind und eine anfechtung rationaler lebensführung, eine noch nicht reflexiv eingenommene bastion verfestigter irrationalität (und spricht dies nicht sogar via negationis für die transrational-religiöse these von der runden göttin?). kein wunder, dass die spätaufgeklärten dicken die rationale gewalt gegen sich selbst wenden, gegen sich selbst kämpfen und so – und nicht, weil sie dick sind – krank werden; bluthochdruck und herzinsuffizienz als ausdruck des fortwährend nach innen gerichteten kampfes der herrschsüchtigen vernunft gegen das archaisch-schöpferische leben?

nach dem zweiten weltkrieg, nach der ersten not-kompensatorischen fresswelle wird dann der nexus zwischen dick-sein und prosperität vollends aufgelöst: schaut her, wir können es uns leisten, dünn zu sein, weil wir jederzeit alle lebensmittel zur verfügung haben. die überlebensnotwendige fettreserve wird gleichsam endgültig in die aldi-regale externalisiert. wer da noch dick ist, hat – siehe oben – sich nicht im griff, oder hat es noch nicht begriffen. dick-sein steigt sozial ab. das schlaraffenland befindet sich in unserer reichweite – aber niemand traut sich zuzugreifen. denn gleichzeitig mit dem einstigen luxuskonsum der oberen schichten wurde eine form rational-selbstkontrollierter lebensführung demokratisiert, die den luxus voller regale nicht mehr zu geniessen erlaubt, sondern ihn zum mittel der selbstertüchtigung und effizienzsteigerung degradiert – so wie, auch eine verrückte aufklärerische kehre, die freie zeit, der geschenkte siebte tag, nicht mehr der muße und dem genuß dient, sondern mit sport und freizeitarbeit der ertüchtigung für den arbeitsprozess. essen, genuss und freie zeit werden vom selbstzweck zum mittel auf höhere lebensziele hin transformiert.






aber plötzlich kippt das bild: dick sein und dicke lieben kommt seit einigen jahren aus der ecke der unkontrolliertheit und der sozialen schwäche heraus, dicke – und hoffentlich auch die, die sie lieben – zeigen sich öffentlich und breit, lernen sich als schön zu sehen, werden selbstbewußt, lachen sich über diätpläne und dauerjogger gesund, verweigern sich den imperativen der selbstkontrolle und der zurichtung auf effizienz, werden zu protagonisten einer weniger verwalteten und durchrationalisierten lebensform, einer lebenskunst, die genußfähigkeit, muße und entschleunigung neu entdeckt, die das leben als geschenk und nicht nur als aufgabe wahrnimmt und feiert. eine ähnlich subversive kraft, die etwa von den 'glücklichen arbeitslosen’ in berlin ausgeht, die ihre existenz nicht mehr ständig als makel begreifen wollen, könnte auch von den selbstbewußten dicken ausgehen, eine subversive kraft, die, wenn die these meiner überlegungen stimmt, uns wieder in berührung bringt mit archaischen religiösen und machtvollen ressourcen des menschlichen lebens.



peterB 2003.