5. VOYEURISMUS, KAMPF, ANSÄTZE ZUR INTEGRATION

In erotischer Hinsicht würde ich die Beziehung von B. und mir durch das Bild von zwei Welten mit Berührungsflächen füreinander beschreiben. 1985 waren wir gemeinsam in Italien, Bade- und Sonnenurlaub am Strand. Und mir hat B.'s Figur im Badeanzug oft sehr gefallen, auch sehr erregt, immer wieder in ihren kleinen Rundungen die großen Rundungen aus meiner Fantasie findend und begreifend. Gleichzeitig - es war nach längerer Zeit mein erster Strandurlaub - waren meine Augen und Sinne auch links und rechts, manchmal muß ich runden und dicken Frauen regelrecht nachgestarrt haben, ich wundere mich, dass das von den Leuten um mich herum noch nie bemerkt worden ist, bzw. mindestens: dass ich darauf noch nicht angesprochen worden bin. Ähnlich habe ich einen Urlaub mit B. 1990 in Spanien erlebt. Dort gab es - subjektiv mir auffallend, oder auch: objektiv? - sehr viele üppige, dicke Frauen zu sehen, manchmal mußte ich nachts neben der schlafenden B. meine Erregung leise ‚ablassen', oft gelang es mir, sie in die gemeinsame Erotik hineinzunehmen.

In den Urlauben wurde nur deutlicher, was mich auch im Alltag prägte: Meine Augen und Sinne sind überall wach und auf der Lauer, wo es viele Menschen, deswegen möglicherweise auch Dicke zu sehen gibt. Zum Teil nehme ich mir bewußt Zeit für - ich sage es einmal so hart - voyeuristisches Flanieren, verfolge eine mir attraktive Frau über einen längeren Wegabschnitt, habe in manchen Städten meine "Fixpunkte", Orte, von denen ich weiß, da wohnt, arbeitet eine dicke Frau... Manchmal ist mir diese Fixierung auch arg lästig und unangenehm. Standardsituation: Ich bin in einer schönen Touristenstadt, sehe Menschen mit Reiseführern, die Sehenswürdigkeiten studierend, und kann je nach Stimmung sehr unterschiedlich reagieren. Denke einmal: Wieviel mehr kann und darf ich hier sehen, das (dicke...) Leben ist doch viel interessanter, anziehender als die toten Gebäude! Oder denke dann: Ach, könnte ich mich halt auch auf Kunst oder Architektur konzentrieren, dafür Leidenschaft, Eros entwickeln - und würde nicht ständig durch das abgelenkt, was mir vor Augen liegt. Ich erlebe mich also als ausgeprägt voyeuristischen Mensch, frage mich oft: Wäre diese Neigung ebenso stark und kultiviert, wenn ich früh schon dicke Frauen geliebt hätte, oder hätte das auch gebunden, kompensiert? Offene Frage.





Fotos, gefundene oder selbstgemalte Bilder spielen weiterhin eine wichtige Rolle für meine Auto-Erotik. Manchmal bewahre ich sie für ein paar Tage auf - immer mit der Angst, jemand - B. - könne sie entdecken, meist werden sie nach der Selbstbefriedigung weggeworfen, auch hier das Changieren zwischen Selbstverständlichkeit und Scham. Ich kann mich allerdings nur an einen Versuch erinnern, meine Sexualität bewußt einzudämmen: Bei einem Praktikum 1985 habe ich versucht, mir ein "Bilderverbot" aufzuerlegen, längst zwar mit meiner autoerotischen Praxis versöhnt (da gab es für mich allenfalls in der Anfangszeit meiner jugendlichen Sexualität einige ‚moralisch' induzierte Skrupel), aber wegen der Stimulanz durch Bilder doch bedrückt. Ich lernte dort einige mollige und dicke junge Frauen kennen, die meine Fantasie sehr beschäftigten. Viel gemalt, viel mich selbst befriedigt. Und es war immer mehr auch das Gefühl: Ich hintergehe damit B. Deswegen hatte ich mir eine Selbstverpflichtung ins Tagebuch geschrieben, ab sofort keine Bilder mehr zu malen - eine Selbstverpflichtung, die trotz großer Anstrengungen kaum zwei Wochen zu halten war... . An große Schuldgefühle und Skrupel kann ich mich selbst beim Scheitern dieses Experiments nicht erinnern, immer wieder eher das gelassene, leicht resignative Achselzucken angesichts meiner erotischen Neigungen: Dann ist es halt so, dann lasse ich es halt so. Wenig Energie (und wenig Motivation und Einsicht) für einen heroischen Kampf gegen meine Sexualität.









Etwa ab 1986 haben B. und ich mehr als vorher über Sexualität gesprochen, äußerer Auslöser war die aufkommende Debatte über Aids. Treue und Untreue waren Thema (bzw. für uns beide eigentlich kein Thema, siehe oben), homoerotische und lesbische Anteile in den eigenen Biografien waren Thema, auch unsere leise, behutsame gemeinsame Geschichte mit Erotik. Ich denke, B. hatte von mir - wohl bis Beginn 1999 - den Eindruck eines sexuell eher verhaltenen, zurückhaltenden Menschen, einer, der ‚das' nicht so braucht, für sie zum einen wohl angenehm, aber auch, insbesondere später, in den 90er-Jahren, zu wenig: Wäre schön, wenn du mich mal so richtig verführen würdest... Ich könnt's mir öfter vorstellen... . An dem, was sich hinter dieser scheinbar ruhigen Oberfläche verbarg, konnte, wollte ich ihr keinen Anteil geben - zumal ich mir mit meiner Neigung immer noch als sehr singulär und irgendwie ver-rückt vorgekommen bin. Immer wieder habe ich allerdings bewußt unser Gespräch auf Körpergefühl oder Diätenwahn gebracht, auch öfters gesagt, dass es mich nicht stört, wenn Frauen ‚ein wenig rundlicher' als normal sind, auch um B's Reaktion zu testen. Dass hier mein Thema war, dass hier - ganz wörtlich -mein Herz schlug, das allerdings hatte ich nie den Mut anzusprechen. Die Angst vor unüberbrückbaren Konflikten, gar vor dem Verlust der mir so lieben B war zu groß.

Geheiratet haben B und ich 1988, der Auftakt zu einer sehr glücklichen gemeinsamen Zeit. Eher skurril und nebenbei: Am Tag der standesamtlichen Trauung fiel mir nach Jahren wieder ein Bändchen mit Skizzen von Heinrich Zille in die Hände: Kurzzeitig sehr erregt, kurzzeitig die Frage: Wie wird das mit meiner Sexualität weitergehen? - aber dann gleich wieder versöhnt und glücklich mit dem, was vor Augen lag. Glückliche gemeinsame Zeit: Unsere Hochzeit fiel zusammen mit dem Beginn unseres beruflichen Lebens, und während B im Studium, zwei Semester hinter mir, latent ‚hinten dran' war, ich oft in der Rolle des Wissenderen, Klügeren, so wurden im Berufsleben die Karten nochmals neu gemischt: Meine Schwächen, ihre Stärken wurden deutlicher, unsere Gaben komplementärer, unsere Beziehung ausgeglichener. Nun, die beiden Paralleluniversen liefen bei mir weiter nebeneinander her, wenn auch mit etlichen und schönen Berührungsflächen.


6. Erste Ahnungen: Ich bin nicht allein...


6. Erste Ahnungen: Ich bin nicht allein...
4. Studium: Die Geschichte mit B. beginnt...